In Memoriam: 20 Jahre Europäischer Verfassungsvertrag: Für ein Europa jenseits der EU
Mit dieser Denkschrift erinnern wir an den Entwurf einer Europäischen Verfassung, der vor genau zwanzig Jahren, im Juli 2003, vorgelegt, feierlich im Oktober 2004 von den europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedet, aber niemals umgesetzt wurde.
Dadurch hat die EU das Versprechen einer demokratischen politischen Union Europa sowie einer europäischen Bürgerschaft nicht eingelöst und schließlich verdrängt. Mit dieser öffentlichen Stellungnahme möchten wir die Frage nach einer demokratischen Verfasstheit Europas und damit die nach der europäischen Souveränität wieder in den Mittelpunkt der europäischen Diskussion rücken. Da sich im Oktober 2024 die Verabschiedung der später gescheiterten Europäischen Verfassung zum 20. Mal jährt, bieten wir diesen Text hiermit im Vorfeld des Jahrestages als Ausgangspunkt für eine breite Diskussion über die Zukunft Europas an.
Europa am Scheideweg
Die Welt steht vor einem dramatischen geoökonomischen und geostrategischen Umbruch. Der einstige Westen hat seine Strahlkraft verloren, die globale Hegemonie der USA zerbricht und eine multipolare Welt nimmt Gestalt an. In dieser Übergangsperiode ist besonders die Zukunft Europas ungewiss. Denn als lediglich technokratische Struktur hat die EU mit dazu beigetragen, die Demokratie in den europäischen Ländern zu unterhöhlen, weshalb sich heute Millionen europäischer Bürger von der Idee eines geeinten Europas abwenden. Allerdings wäre ein Zerfall der Union kein Ausweg; er wäre lediglich der letzte Akt eines langen Prozesses einer selbstzerstörerischen europäischen Politik.
Im Interesse seiner eigenen Selbsterhaltung muss Europa auf diesen Moment der Weltgeschichte reagieren. Um einen Zerfall der Europäischen Union zu verhindern, bedarf es eines emanzipatorischen Aktes, der einer institutionellen Kernsanierung gleichkommt: Die Europäische Union, die bislang eine reine Vertragsunion gewesen ist und über keine lebendige Identität verfügt, muss tatsächlich europäisch werden. Sie muss sich aus der einseitigen atlantischen Umklammerung lösen, sich an ihre eigenen Bürger binden und in Äquidistanz die Kooperation mit allen anderen Staaten und Mächten suchen. Vor allem aber muss sie sich auf ihre eigenen geistigen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Traditionslinien besinnen, um diese in die Gestaltung einer gerechten und friedensfähigen Welt im 21. Jahrhundert einzubringen.
Europa droht im Vorfeld der Europawahlen vom Juni 2024 zwischen den Verteidigern einer technokratischen, bürgerfernen, tendenziell gar korrupten EU und den Anwälten einer Rückkehr zum Nationalstaat gespalten zu werden. Es besteht die akute Gefahr, dass sich die jahrelang geführte Diskussion über ein anderes Europa zu einer Debatte über kein Europa ausweitet. Herkömmliche Reformansätze können die strukturelle Krise der europäischen Demokratie aber nicht mehr lösen.
Stattdessen bedarf es einer Aktualisierung der einstigen Ambition Europas, das sich vor nunmehr gut 70 Jahren vor dem Hintergrund zweier Weltkriege als Friedensprojekt konstituierte und angetreten war, die nationalen Konfliktlinien zu überwinden und Europa als politische, demokratische, soziale und dezentrale Einheit zu verfassen.
Zur aktuellen Lage
Blickt man auf die heutige EU, so sieht man einen fortschreitenden, allgemeinen Zerfall des Kontinents, vor allem in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft und Geostrategie, aber auch in der sozialen und kulturellen Sphäre. Die EU hat diesen Verfall nicht verhindert, sondern ihn – zu Lasten der europäischen Bürger – sogar noch befördert.
Die Gebäude und Institutionen der EU stehen zwar noch, doch die geistigen Grundlagen Europas sind rapide im Schwinden begriffen. So kann fast nichts von dem, was für die Vordenker Europas –, etwa die Autoren des berühmten antifaschistischen Europa-Manifestes von Ventotene von 1941 oder für die späteren Gründungsväter eines geeinten Europas Jean Monnet, Robert Schuman oder Altiero Spinelli – einst selbstverständlich gewesen ist, in der heutigen Debattenkultur noch vorausgesetzt werden.
Europa versinkt in der post-kolonialen Debatte, deren Schuldanerkenntnis oft in Selbstgerechtigkeit umschlägt. Stattdessen sollte unser Kontinent sich auf seine geistigen Wurzeln in der Aufklärung und im Humanismus berufen, den eigentlichen Gegenspielern des Imperialismus, denen auch heute noch das Potenzial zukäme, sowohl Europa als auch der Welt zu dienen.
Zurzeit wird das aufbrechende Vakuum jedoch wahlweise von postmodernen, individualistischen Diskursen oder den Einzelinteressen eines zunehmend monopolistisch organisierten Kapitals gefüllt. Verloren ist die Universalität des politischen und kulturellen Geistes Europas, der aus Kunst, Literatur und Philosophie zu schöpfen wusste und Menschheitsinteressen im Sinne eines Universalismus zu artikulieren vermochte. Neben dem Demokratieversprechen ist auch das aus zwei Weltkriegen hervorgegangene Friedensversprechen unseres Kontinents preisgegeben worden.
Dieser Entwicklung vorausgegangen war eine Sternstunde der europäischen Geschichte. Wir erinnern uns: 1989 wurde Europa mit einer friedlichen Revolution beschenkt. Durch den von Michael Gorbatschow ermöglichten Mauerfall bot sich für Europa eine einmalige Chance zur Errichtung einer dauerhaften, potenziell für Generationen gebauten, kontinentalen Friedensordnung. Mit dem Ende der Systemkonfrontation war die Vorstellung eines mit Russland versöhnten Europas, das die Spuren zweier Weltkriege sowie des Kalten Krieges aufhebt, nicht länger nur ein Traum, sondern wurde zum erklärten Ziel des europäischen Einigungsprozesses. Es ging um nicht weniger als eine souveräne, föderale, politische Union Europa für die Bürgerinnen und Bürger Europas.
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Die gesamte Denkschrift, inklusive Übersetzung in 10 Sprachen, kann unter folgendem Link erworben werden:
https://ars-vobiscum.media/Fuer-ein-Europa-jenseits-der-EU-Ulrike-Guerot-Hauke-Ritz/ARV10042
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