June 2, 2023

Ein postatlantisches Europa

Autoren
Hauke Ritz
Co-Direktor
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Gehört die atlantische Orientierung zu Europa? Folgt man dem dominanten Mediendiskurs, so scheint dies der Fall zu sein: Ohne den militärischen Schutz der USA, ohne den Einfluss transatlantischer Netzwerke wie der Atlantikbrücke und ohne die Ausrichtung der EU-Außenpolitik auf die US-Interessen ist das heutige Europa für viele nicht mehr vorstellbar. Ein häufig wiederholtes Mantra lautet: „Ein geschlossenes Auftreten der transatlantischen Gemeinschaft dient am Ende auch Europa.“ „Ohne den Schutz der USA könnte Europa sich nicht verteidigen“, lautet ein anderes. Doch ist das wirklich so?

Am 4. April 2023 jährt sich die Gründung der NATO zum 74. Mal. Historisch betrachtet sind diese 74 Jahre durch einen konstanten und stetigen Souveränitätsverlust nicht nur der einzelnen europäischen Staaten, sondern auch der EU als Ganzes gekennzeichnet. Es wirkt so, als ob Europa, das Jahrhunderte lang das geistige Weltzentrum darstellte, unter amerikanischem Einfluss in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. Diese Marginalisierung Europas wird oft mit dem Argument entschuldigt, dass Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immerhin eine Phase des Wohlstands durchlaufen habe und diesen auch den USA verdanke. Es ist zwar richtig, dass die Öffnung des amerikanischen Marktes der europäischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sehr genützt hat. Dennoch verdankt Europa seinen Wohlstand nicht den USA, sondern vor allem dem Bildungsniveau seiner Bevölkerung sowie seinem besonderen Sozialmodell, das eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik ermöglichte und wiederum aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist.

Gerade hier unterscheiden sich aber Europa und die USA sehr stark voneinander. Dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu Wohlstand gelangt ist, hing vor allem damit zusammen, dass Europa im Bereich der Wirtschaftspolitik noch lange Zeit über Souveränität verfügte und die Merkmale des deutschen, französischen oder italienischen Sozialmodells gegenüber dem amerikanischen Kapitalismus erfolgreich zu verteidigen wusste. Erst gegen Ende des Kalten Krieges verlor Europa auch in der Wirtschaftspolitik allmählich seine Eigenständigkeit. Von der Akzeptanz der in den USA entworfenen neoliberalen Wirtschaftslehre in den Achtzigerjahren über die Zerschlagung der Deutschland AG in den Nullern bis zum aktuell in Vorbereitung befindlichem transatlantischen Freihandelsabkommen mussten sich die Staaten der EU immer stärker an das amerikanische Kapitalismusmodell anpassen. Heute ist diese Anpassung so weit gediehen, dass Europa nicht einmal mehr seine vitalsten wirtschaftlichen Interessen, etwa das Interesse nach billiger Energie, verteidigen kann. Dass europäische Firmen heute aufgrund hoher Gaspreise Einladungen zur Übersiedlung in die USA erhalten, während sich gleichzeitig nach Recherchen von Seymour Hersh die Hinweise verdichten, dass die USA durch die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline selbst an den explodierenden Energiekosten in Europa beteiligt waren[1], drückt aus, wie umfassend die EU ihre Eigenständigkeit aufgegeben und sich den USA untergeordnet hat.

Angesichts dieser Situation möchten wir mit der Neuaufstellung des European Democracy Labs das Thema eines souveränen Europas erneut zum Gegenstand der Diskussion und Analyse machen. Europa ist zu wichtig, als dass seine Zukunft von innenpolitischen Entwicklungen in den USA abhängen darf. Während man im Washingtoner Beltway die USA als Führungsmacht der von ihr aufgebauten Weltordnung begreift und zu diesem Zweck gerne machtpolitisch denkt, geht es uns darum, Europa nicht ausschließlich als geopolitische Macht, sondern auch als Zivilisationsprojekt zu begreifen.[2] Denn Europa hat spätestens seit der Aufklärung die heute dominante Weltkultur gestiftet, die immer noch der gültige Referenzrahmen für die Erhaltung der Zivilität und des Friedens auf unserem Planeten ist. Wo immer heute in der Welt internationale Probleme verhandelt werden, wird dies mit Bezug auf Begriffe und Denkfiguren getan, die auf die europäische Geistesgeschichte zurückverweisen, weshalb gerade Europa als ein Advokat des Friedens und der Gerechtigkeit wirken könnte. Damit Europa endlich die Friedensmacht werden kann, die es eigentlich schon nach dem Fall der Berliner Mauer sein wollte, ist es dringend erforderlich, dass die Zukunft Europas wieder in europäische Hände gelangt. Sowohl im Bereich der Sicherheitspolitik als auch im Bereich der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich europäische und amerikanische Interessen signifikant. Während die USA den Krieg benötigen, um stark zu sein, ist es im Falle Europas genau umgekehrt: Europa war in Kriegszeiten stets schwach und bedarf des Friedens, um seinen Platz in der Welt zu finden und zu deren Entwicklung beizutragen. Ein Europa, das einen neuen Eisernen Vorhang und einen potenziell Jahrzehnte andauernden Konflikt mit Russland akzeptiert, würde sich seiner eigenen Zukunft berauben. Nicht nur, weil die enormen Ausgaben für Rüstung und Militär dann nicht länger für Infrastruktur und Entwicklung zur Verfügung ständen; auch hätte ein Europa, dass sich vom asiatischen Kontinent abschneidet, zunächst von den sibirischen Rohstoffen und dann auch von den bedeutenden Märkten Chinas, Russlands und potenziell auch Indiens, kaum noch eine wirtschaftliche Zukunft.

Dass diese Zukunft nicht mehr ausschließlich im Verhältnis zu den USA gesucht werden kann, zeigt sich auch daran, dass die USA in den zurückliegenden Jahrzehnten selbst einem enormen kulturellen Verfall ausgesetzt gewesen sind.[3] Sollte sich die EU dazu entscheiden, zusammen mit den USA eine Konfrontation mit den aufsteigenden Schwellenländern der südlichen und östlichen Hemisphäre einzugehen, so ist anzunehmen, dass sich die Regression der politischen Kultur der USA auf Europa übertragen wird. Kurz: Die transatlantische Orientierung hat im Verlauf der vergangenen sieben Jahrzehnte ihren Charakter nachhaltig verändert. Sie ist von einer anfänglichen Vorteilsgemeinschaft zu einer nicht weiter infrage gestellten Gewohnheit geworden, die mittlerweile den Charakter einer schweren Belastung für die Europäer angenommen hat. Die transatlantische Ehe ist in eine Sackgasse eingebogen, an deren Ende Krieg, Isolation, Armut und Bedeutungslosigkeit stehen. Angesichts dessen wäre die Scheidung unmittelbar für die Europäer, aber langfristig auch für die USA von Vorteil. 78 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Zeit für ein postatlantisches souveränes Europa reif zu sein. Das European Democracy Lab möchte diese Entwicklung hin zu einem souveränen Europa begleiten und die Konsequenzen in den verschiedenen Bereichen der Regierungspolitik ausbuchstabieren.

 


Quellen

1 Seymour Hersh, How America Took Out The Nord Stream Pipeline, www.subtrack.com, 8. Februar 2023

2 Hauke Ritz, Die Rückkehr der Geopolitik - Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen, Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2013, S. 71 - 80

3 Vgl.: Ulrike Guerot, Hauke Ritz, Endspiel Europa - Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist - und wie wir wieder davon Träumen können, Westend Verlag, Frankfurt a. Main 2022, S. 143 - 179

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